Dichtung oder Wahrheit?

Anmerkungen zu

Ludwig Feuchtwanger mit Bertil Scali, Als Hitler unser Nachbar war. Erinnerungen an meine Kindheit im Nationalsozialismus. Aus dem Französischen von Antje Peter mit einem Nachwort von Bertil Scali. 1. Auflage. Siedler Verlag, München, 2014. 222 S., ISBN 978-3-8275-0038-0

Der Historiker Edgar Feuchtwanger (geb. 1924), Sohn des Verlegers Ludwig Feuchtwanger (Verlag Duncker & Humblodt) und Neffe des Schriftstellers Lion Feuchtwanger, lebte als Kind mit seiner Familie in München in einer Wohnung in der Grillparzerstraße 38. 1929 bezog Hitler im Haus „gegenüber“, eigentlich jedoch am Prinzregentenplatz 16, seine Privatwohnung. Im vorliegenden in Kooperation mit dem französischen Journalisten Bertil Scali entstandenen Buch gibt der inzwischen 89jährige Edgar Feuchtwanger seine Eindrücke wieder, die er im Alter zwischen 5 und 14 Jahren gehabt haben will.

Gertrud von le Fort lebte ab 1921 in der Nähe von München, so zunächst in Tutzing und Feldafing, ab 1922 schließlich in Baierbrunn. Zu ihrem damaligen Bekanntenkreis gehörte u. a. die Familie Ludwig Feuchtwanger. Ca. 45 Briefe von Ludwig Feuchtwanger aus den Jahren 1924-1931 und dann 14 Briefe von Edgar bzw. Erna Feuchtwanger aus den Jahren 1957-1971 bezeugen dies. Da Gertrud von le Fort bis 1940 ihren Hauptwohnsitz im Isartal hatte und die Familie Ludwig Feuchtwanger erst im Frühjahr 1939 nach England emigrierte, konnte man annehmen, dass Edgar Feuchtwangers Kindheitserinnerungen hier weitere Erkenntnisse vermitteln würden.

Bei der Lektüre des Buches fällt zunächst die vom Co-Autor Bertil Scali gewählte Erzählperspektive auf. Infolge der „Ich-Perspektive“ und der vorgegebenen tagebuchartigen Wiedergabe soll der Leser den Eindruck gewinnen, als würde das damals 5- bis 14-jährige Kind aktuell von seinen Erlebnissen und Eindrücken erzählen. Die so behaupteten Erinnerungen umfassen dann jedoch Sachverhalte, die kaum bei einem Kind in dieser Weise gegeben sein konnten. Die vielen Passagen mündlicher Rede und die Wiedergabe von Gesprächen sind (tendenzielle) literarische Gestaltung, sind Fiktion. Für die Figur von Edgars Kindermädchen Rosie gibt Scali zu, dass sie „für dieses Buch fiktionalisiert“ wurde, „um bestimmte politische, religiöse und gesellschaftliche Zusammenhänge zu verdeutlichen - zum besseren Verständnis der Zeit“ (219), wie er vorgibt. Der Leser, der dem Historiker Edgar Feuchtwanger vertrauen wollte, erfährt bei genauem Hinsehen schlichtweg Fiktion, er wird daher zunehmend kritischer: Liegt denn das Anwesen Grillparzer Straße 38 überhaupt dem Anwesen Prinzregentenplatz 16 „gegenüber“? Liegen da denn nicht ca. 200 Meter dazwischen? Kann man da noch von „vis-à-vis“ reden? ...

Die Situationsbeschreibung durch Bertil Scali: „Edgar wuchs heran, und weiterhin begegnete er Hitler auf der Straße. So erlebte er, wie der Diktator seine Macht ausbaute, sah, wie die Autokolonnen vor dem Haus länger wurden und die Gäste immer berühmter. Während Hitler nichts von dem Kind ahnte, das ihn heimlich beobachtete, wusste Edgar nur zu genau, wer der Nachbar war und kannte auch den nationalsozialistischen Führungsstab, der zunächst in München ansässig war. (…) Die Jahre von 1929 bis 1939 waren höchst ereignisreich und prägten das Leben der Menschen auf radikale Weise. … Und nach jeder dieser Aktionen (erg. Hitlers) musste sich Edgar auf neue Schikanen einstellen, denn er stammte aus einer jüdischen Familie“ (214f). Bertil Scalil schreibt weiter: „Zehn Jahre lang hatten er (Edgar Feuchtwanger) und Hitler einander gegenüber gewohnt. Das sind 3600 Tage und Nächte. Wie oft mochte er sich beim Zubettgehen die Frage gestellt haben, ob Hitler schon schlief, und, ob er schon aufgestanden war, während sie morgens frühstückten, und welchen neuen Irrsinn er an diesem Tag ersinnen mochte. Diese Jahre, Edgars Jugend, waren geprägt von Fragen wie: Ist er da? Was macht er? Will er uns töten? Wird er uns töten? Warum? Warum uns? Warum mich?“ (215)  
Für den Leser stellt sich die Frage: Warum hat man damals Klein-Edgar mit seinen wundersamen Fähigkeiten nicht einfach gefragt hinsichtlich dessen, was er denn „nur zu genau wusste“? Der ganzen Welt wäre doch Schlimmes erspart geblieben! Und: Was an diesem Buch ist Produkt überschießender Fantasie, was ist Fiktion, was ist historische Wahrheit?

Zu Gertrud von le Fort wird u. a. behauptet (125-127):
„Gertrud von Le (sic!) Fort besitzt eine große Villa am See. Fast jeden Tag lädt sie uns zum Tee zu sich ein.“
Richtig ist: Gertrud von le Fort besaß (am Starnberger See) nie eine Villa. Sie wohnte damals vielmehr auf der Konradshöhe in Baierbrunn.

„Sie schüchterte mich ein, weil sie sich wie eine Dame im Mittelalter kleidet, immer in Samt, ihr Gesicht ist über und über mit weißem Puder bedeckt, sodass ich immer denke, dass ich gleich loshusten muss, wenn ich sie umarme. Die Lippen sind rot geschminkt, die Augenlider grün, …“
Richtig ist: Gertrud von le Fort hat sich nicht „wie eine Dame im Mittelalter (ge)kleidet, immer in Samt“. Sie hat sich nicht, wie behauptet, gepudert und geschminkt.

„… und ihre Stimme hört sich an wie das Knarren einer Tür.“
Richtig ist: Ihre Stimme war eher zart, leise und verhalten.

Dass im Jahr 1934 „auch der Papst zu ihren Bewunderern“ gehörte, ist nicht bekannt und höchst unwahrscheinlich.

Hinsichtlich der behaupteten Erzählung Gertrud von le Forts: „Früher, mit ihren Eltern, brauchten sie zwei Tage, um bis zu den Seen zu gelangen. Auf Ochsenkarren sitzend, fuhren sie von München los. … Seit damals liebt sie es, sich in Samt zu kleiden.“ ist richtig: Gertrud von le Fort und deren Eltern haben nie in München gewohnt und sind auch nie von München aus auf Ochsenkarren losgefahren.

Der Leser fragt sich nach der Intention Edgar Feuchtwangers, wenn er im Jahr 2014 Gertrud von le Fort als skurriles, verstaubtes, clowneskes und unpolitisches Faktotum darstellt. Feuchtwanger schließt seine eigenen Ausführungen zu Gertrud von le Fort mit dem Satz: „Oft verheddern sich meine Gedanken, (…), und dann weiß ich weder, was ich sage, noch was ich denke.“ (127) Ja, wenn er es selbst so sieht, ...!

Das Verhalten Gertrud von le Forts während der NS-Zeit gegenüber Juden bedarf längst einer detaillierten Untersuchung. Fest steht bereits jetzt: Zu ihrem engsten Freundeskreis gehörten etliche Juden, sie sorgte sich verschiedentlich um deren Flucht aus Nazi-Deutschland, sie beschäftigte selbst noch - geradezu unbeeindruckt und im Bewusstsein ihrer eigenen Gefährdung im Jahr 1942 (und vielleicht im Vertrauen auf die Denkweise der Oberstdorfer Bevölkerung?) - eine Jüdin als Sekretärin/Haushaltshilfe.

Bertil Scali beginnt sein Nachwort: „FÜR DIE REVISIONISTEN, die an der Wahrhaftigkeit dieses Berichts Zweifel hegen mögen - man kennt ihre krankhafte Freude daran, alles in Frage zu stellen, was die behandelte Epoche betrifft -, sei präzisierend hinzugefügt, dass nur einige Details, etwa die Witterung, die an gewissen Wintertagen herrschte, während in der Küche eine deftige Wurst gebraten wurde, eventuell Anlass zu Widerspruch geben könnte. Es ist wahr dass sich Edgar nicht mehr ganz genau an alle Mahlzeiten jedes einzelnen Tages erinnert oder an die jeweilige Temperatur, die draußen herrschte, ebenso wenig an das Muster der Krawatte, die sein Vater morgens ausgewählt haben mochte. Diese Dinge also entspringen einer erzählerischen Freiheit. Jedenfalls ein klein bisschen, denn Edgars Gedächtnis ist voller sinnlicher Erinnerungen aus seiner Kindheit in Deutschland. Das Leben von Edgar Feuchtwanger, der zehn Jahre lang vis-à-vis Adolf Hitler gewohnt hat, ist eine Mischung aus Poesie und Schrecknis.“ (213) 
Forsch formuliert! Allzu forsch? Oder eher verdächtig forsch?

Der Rezensent hat sich unbeeindruckt von diesem Vorwurf, Revisionist zu sein, erlaubt, dieses Buch kritisch zu lesen, zu hinterfragen, zu überdenken. Nicht aus „krankhafter Freude, alles in Frage zu stellen“, sondern einfach nur um der Wahrheit willen.

Fazit:
Ist Edgar Feuchtwanger in diesem Buch wirklich Historiker?
Worin gründet der Eifer von Bertil Scali?
Sapere aude! Oder andersrum: Man muss sich dieses Buch nicht antun.